Sagen und Geschichten: Der ewige Faden




Die Gräfin Ursula war bösartig. Von ihrer Tyrannei wird in vielen Geschichten berichtet. Die zur Herrschaft Arnstein gehörenden Dörfer waren zu hartem Frondienste verpflichtet. Dazu gehörte auch, dass aus jeder Familie die Frau oder eine Tochter vom Martinstage (am 11. November) bis zum Johannestage (24 Juni) auf der Burg für die Herrin spinnen musste.


Frau Ursula aber machte den Weibern die Spinnstube zur Hölle, sodass die Spinnerinnen Jahr für Jahr den letzten Tag dieser Fronzeit herbeisehnten. Und das war das Fronleichnamsfest.


Nun war unter den Spinnerinnen auch eine arme Witwe Magdalena. Sie hatte eine einzige Tochter namens Else, ein liebliches Kind. Else konnte einen sehr, sehr feinen Faden spinnen. Man sagte, ihr Gespinst sei aus Sonnenstrahlaufgang und Mondstrahleinzug gewoben.


Auch die Gräfin Ursula hörte von der kunstvollen Spinntätigkeit dieses Mädchens, und sie war recht zufrieden, dass Else für ihre kranke Mutter die Stelle in der Spinnstube auf der Burg einnahm.  


Die kranke Mutter spürte ihr Ende nahen. Es war am letzten Tage der Fronspinnerinnen, am Fronleichnamstag. Sie bat ihre Tochter, den Priester zu holen und sich von Gräfin Ursula an diesem letzten Tage frei geben zu lassen. Die Gräfin aber war hartherzig. Sie beschimpfte die fleißige Else. Sie nannte sie eine Lügnerin, die sich nur einen Tag frei machen wolle. Das Mädchen warf sich ihr zu Füßen und bat und bettelte. Gräfin Ursula aber lieb hart.


Else beschwor sie, wenn sie, die Gräfin, jemals hoffe, ein liebes Kind an der Mutterbrust zu halten, so möge sie doch ihr gestatten, ihrer Mutter im Sterben Beistand zu leisten.


Da meinte die Burgfrau, Else wolle sie wegen ihrer Kinderlosigkeit verspotten. Sie ließ sie in den finsteren Kerker werfen. Elses Mutter starb, ohne ihre Tochter noch einmal gesehen zu haben. Und Else saß im Kerker und trennte sich.


Am anderen Morgen ritt Gräfin Ursula zur Jagd aus. Jedoch ihr Pferd strauchelte in einem fort. Als sie nachsah, entdeckte sie, dass ihrem Reittier ein Hufeisen fehlte. Heftig blutete es aus dem verletzten Fuße. Sie wollte nun das Pferd, es war ihr Lieblingstier, mit feinster Leinwand verbinden.  


Aber da wurde ihr gesagt:” Die feinste Leinwand spinnt und webt Else.” Ursula rief:”Bringt sie mir schnell mit ihrer Leinwand herbei. Ich will den Boten reich belohnen.”

Als aber die Boten zum Kerker im Turme kamen, war der leer. Else war verschwunden. Über der Tür jedoch war in blutiger Schrift zu lesen:”Gott hat der Flucherin den Fluch zurückgesandt.”


Seitdem ist die Burgfrau in eine Ecke der Burg verwünscht und muss ruhelos nach der entgegengesetzten Ecke wandern und wieder zurück. Dortselbst muss sie, ohne zur Ruhe zu kommen, einen nimmer endenden ewigen Faden spinnen…


Ob sie jemals zur Ruhe kommen wird?


Aus der Sammlung: Geschichten, Sagen und Erzählungen aus dem Einetal, 
von Gerhard Dörfer, Haldensleben

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